Unter den Holzfällern

 

 

 

Im nördlichen Minnesota brach ein neuer Herbsttag an. Zwei Männer suchten im Dämmerlicht ihren Weg durch den Kiefernwald. Links und rechts von ihnen ragten die kerzengeraden Baumstämme wie Säulen empor, und hoch über ihren Köpfen schlossen sich die Äste zu einem dichten, grünen Zeltdach. Unter ihnen dämpfte ein Teppich aus Kiefernnadeln ihre Schritte.

 

Tim war klein und bucklig, besaß aber lange, kräftige Arme. Aus der verkrüppelten Gestalt mit dem verfilzten, dunklen Kopf- und Barthaar blickte ein freundliches, ja kluges Gesicht zu Raymond auf, der erst kürzlich in das Lager gekommen war. Raymond war jünger, groß und breitschultrig und hatte einen aufrechten, stolzen Gang. In seinem hübschen, markanten Gesicht blitzten stahlblaue Augen. “Ray, du hast viel, wofür du dankbar sein kannst.”  Ich ?”  “Ja, du.  Fröhlich überhörte Tim die Verachtung, die in der Stimme des anderen mitschwang. “Ich weiß zwar nicht, was in den wenigen hinter dir liegenden Jahren geschehen ist, noch was jemanden wie dich hierher verschlagen hat, aber du bist ehrlich und stark, du hast etwas gelernt, und du hast eine Chance gehabt, Ray.” Sie waren in einer Lichtung angekommen. Tim warf seinen Mantel ab, griff sich eine Axt und begann mit wuchtigen Schlägen eine hohe kiefer zu fällen. Raymond stand gedankenverloren daneben. Eine Chance ? Ja, die hatte er gehabt, und er hatte sie weggeworfen. “Das ist ganz allein meine Angelegenheit”, sagte er sich und versuchte den Rat seines alten Vaters zu vergessen. “Ja, ich bin jetzt frei von dem alten Aberglauben, doch manchmal frage ich mich, ob die Freiheit den Preis wert ist, den ich dafür bezahle.”

 

Raymond war vor drei Wochen im Haskin-Camp angekommen. Seine Arbeitskollegen sahen sofort, daß er nicht einer der ihren war. Seine gepflegte Ausdrucksweise und sein gewandtes Auftreten, vor allem aber die Tatsache, daß er sich weigerte, bei ihren wüsten Vergnügungen mitzumachen, stieß bei ihnen auf Ablehnung. Auch sein Schweigen über seine Vergangenheit wurde mit Argwohn registriert. Die Männer im Camp waren rauh und ungebildet. Viele von ihnen hingen an der Flasche, und Fluchen und Mißachten des Sonntags gehörten zur Tagesordnung. Es gab ja auch nichts in der Umgebung, was sie zu einem besseren Leben inspiriert hätte.

 

Tim gehörte seit vielen Jahren zum Trupp. Trotz seiner Schwerfälligkeit und körperlichen Behinderung war er allgemein beliebt. Zu aller Ueberraschung schien er sich zu dem großen Raymond hingezogen zu fühlen. Diese Neigung drückte er in vielen unauffälligen Gesten aus, sodaß der junge Mann ihn freundlich duldete. Das Erntedankfest kam. An jenem Morgen erwachte Raymond aus einem unruhigen Schlaf. Die ganze Nacht hindurch hatten ihn in seinen Träumen Bilder aus der Vergangenheit verfolgt. Es schneite heftig, denn der Winter war bereits in dieses nördliche Land eingezogen. Raymond und Tim arbeiteten gerade in einer großen Gruppe von Holzfällern, als ein Waldriese mit lautem Krachen zu Boden stürzte. Diesen Lärm übertönte ein gellender Schreckens- und Schmerzensschrei. Er kam von Tim. Der hatte unglücklicherweise in Fallrichtung des Baumes gestanden, sodaß er von den großen Ästen zu Boden geschleudert und eingeklemmt wurde. Raymond war als erster an seiner Seite. Vorsichtig befreiten die Männer Tim. Sein armer, verkrüppelter Körper war schrecklich zugerichtet.

“Ich glaube, es geht zu Ende mit mir, Jungs”, brachte er hervor, bemüht, seine Stimme zu beherrschen. “Ray, bleib bei mir. O, seid vorsichtig !”  Sie trugen ihn ins Lager. Ein Mann wurde zu Pferd nach einem Arzt in den nächsten Ort geschickt, der über 30 km entfernt lag. Alle befürchteten, Tim würde vor dem Eintreffen des Arztes sterben, denn er litt furchtbar.

 

Als man ihn auf eine primitive Koje neben dem großen Ofen gebettet hatte, sah er traurig zu seinen Kameraden auf: “Das ist der Tod, Leute. Sagt mir was von Gott. Über ihn hat noch nie jemand mit mir geredet.”  Ein sonderbares Schweigen legte sich auf die versammelten Männer, ein Schweigen, das nur von dem Heulen des Windes draußen unterbrochen wurde. Tim setzte wieder an:”Ray, sag es mir, du mußt doch etwas wissen. Du bist so anders als wir.”

 

Alle Blicke richteten sich auf den jungen Mann. Der beugte sich tiefer über Tim und fragte: “Was genau willst du denn hören ?”  “Alles über Ihn. Ob Er wohl zornig ist, weil ich ihm nie gedankt habe? Weißt du, ich bin so unwissend, und mich hat nie jemand etwas gelehrt. Kannst du mir denn nicht etwas von Ihm sagen? Du kannst es doch, mein Junge. Bete für mich!” Raymond Lees Gesicht verhärtete sich und wurde bleich. Sein Vater war Pfarrer. Er sebst hatte Theologie studiert. Durch den Einfluß eines Studienkollegen und dessen Bücher waren Raymonds Zweifel gekommen. Im Hochmut der eigenen geistigen Überlegenheit hatte er sein Studium fortgesetzt, schließlich den Glauben seiner verstorbenen Mutter belächelt und Gott geleugnet. Entschlossen, alle Brücken zum Elternhaus abzubrechen, hatte er trotzig seinem Vater von seiner neuen Einstellung geschrieben und war in die Welt hinausgezogen, ohne irgendeine Nachricht von seinem Aufenthalt zu hinterlassen. Dunkle Tage folgten. Er mußte die Leere eines Lebens ohne Hoffnung auf Gott erfahren. Raymond sehnte sich nach dem Klang der Stimme seines Vaters, aber er war zu stolz, um nach Hause zurückzukehren und um Vergebung zu bitten. In einem Anfall von Verzweiflung hatte er sich bei dem Vorarbeiter von Haskins Holzfällerlager verdingt.

– All dies schoß ihm in einem Augenblick durch den Kopf. Dieser sterbende Mann bat ihn, zu beten. Ein Stöhnen kam von Rays Lippen:

“Tim, ich kann nicht, ich…” Er hielt inne, unfähig zu sagen, daß er nicht an den Gott glaubte, zu dem selbst Tim in seiner Sterbestunde gefunden hatte. “Du kannst nicht? Warum?  Ich dachte, du würdest Ihn kennen. Du hast doch eine Chance gehabt!” Mehr konnte Raymond nicht ertragen. Er wandte sich ab und stürzte hinaus in den Sturm. Stundenlang irrte er durch den weglosen Wald,ohne auf den Wind und das Schneetreiben zu achten. Direkt damit konfrontiert, rang er mit dem Problem der Beziehung des Menschen zu seinem Schöpfer. Raymond Lee war allein mit Gott. In dieser Stunde fielen alle seine stolz vertretenen Vorbehalte von ihm ab. Die materialistischen Theorien, auf die er sich gestützt hatte, zerbrachen unter ihm. Zurück blieb nur ein sicheres Fundament.

 

In dem Raum, in dem Tim lag, begann es schon dunkel zu werden, als sich die Tür öffnete und Raymond eintrat. Mit festen Schritten ging er auf den Sterbenden zu.

“Tim, ich bin Gott begegnet. Er hat mir Sünder vergeben, und ich bin gekommen,um dir von seiner Liebe zu erzählen.”  Liebevoll erklärte er Tim mit einfachen Worten, wie sich die Liebe Gottes darin zeigt, daß er seinen geliebten Sohn in die Welt sandte, damit er anstelle der Sünder sterbe und so die Sünden all derer trage, die ihr Vertrauen auf ihn als ihren Retter setzen. “Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, daß Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren.” (Roemer5, 8)

“Das Blut Jesu, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde.” (1.Johannes 1, 7)

Andere sammelten sich um das Bett. Konnten sie noch an der Wahrheit der gehörten Worte zweifeln, als sie das Leuchten in Tims Augen sahen? “Ich verstehe”, hauchte der. Raymond kniete nieder. Einer dieser rauhen Männer, dann noch einer folgten. Nie zuvor hatte Raymond so gebetet wie in dieser Stunde. Gott war mit ihm. Inmitten von Menschen, die – wie Tim es ausdrückte – “noch nie eine Chance gehabt hatten”, brachte er seine Bitten vor Gott in der völligen Glaubensgewißheit, daß Er bereit war, zu erretten. “Es ist alles gut”, flüsterte Tim. “Ich gehe zu IHM”, brachte der Sterbende mit letzter Kraft über die Lippen, und wenige Augenblicke später war alles vorüber.

Raymond wandte sich seinen Arbeitskollegen zu: “Tim hat uns verlassen, und ich habe den Dienst wieder aufgenommen, den ich vor vielen Jahren Gott gelobte. Ihr seid Zeuge meines Versprechens an Tim. Wollt ihr mir meine Haltung euch gegenüber vergeben, und mich bei euch beginnen lassen?”  Ja, das wollen wir”, kam die Antwort ihres Sprechers. “Wenn einmal unsere Stunde schlägt, wünschten wir,wir hätten dich gehört.” Und Ray erzählte die “alte, alte Geschichte” von Jesus und Seiner Liebe zu ihnen.

 

Ehe sich Raymond an diesem Abend schlafen legte, schrieb er einen langen Brief an seinen Vater. Er wolle bleiben wo er war, bis er eine Antwort erhielte. Am nächsten Abend hielt er eine Versammlung, in der er von Jesu Leben, Tod und Auferstehung berichtete. Der dritte Abend kam. Am Ende von Raymonds belehrender, aber ergreifender Ansprache öffnete sich die Tür, und ein großer, hagerer Mann mit schneeweißem Haar trat ein. “Vater!”  “Mein Sohn! Ich bin gekommen, um dir zu helfen.”  Raymond Lee lag seinem Vater in den Armen. Die begonnene Arbeit im Haskin-Camp wurde fortgesetzt, bis schließlich siebzig Menschen den Herrn Jesus als ihren Heiland fanden.